Eigentlich hatte ich ja gehofft, bei Baumläufern mittlerweile einigermaßen klar zu sehen. Aber beim Aufräumen von Fotos von Ende Januar bin ich über diesen hier gestolpert, der mir etwas Kopfzerbrechen bereitet:
Größe: 89.25 KiB, 2011 mal betrachtet
(Foto aus einem Park hier aus der Umgebung, ohne nennenswerten Nadelbaumbestand.)
Mein "Lieblingsmerkmal", das Stufenmuster auf den Handschwingen, sagt relativ eindeutig Gartenbaumläufer. Aber ich hatte noch nie einen mit so kräftigem, nahezu reinweißen Überaugenstreifen. Auch der Schnabel erscheint mir etwas kurz zu sein; beides spräche eher für Waldbaumläufer. Die Hinterkralle hingegen ist nicht auffällig lang und ich finde auch die Flanken durchaus sandbraun überhaucht (aber nicht allzu deutlich):
Größe: 57.5 KiB, 2011 mal betrachtet
Was meint ihr zu dem? Vielen Dank schon mal für eure Einschätzungen!
Schöne Grüße. Ilja.
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 27 Nov 2022, 20:23
von Richard
Ich sehe auf Bild 1 eher eine lange Hinterkralle. Schnabel kurz und Augenstreif deutlich.
Und der Ruf passt auch
Waldbaumläufer würde ich sagen.
Beste Grüße
Richard
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 28 Nov 2022, 19:16
von UliK
Die Angaben von längerer/kürzerer Schnabel oder Hinterkralle finde ich immer ziemlich relativ und schwer einzuschätzen, wenn man keinen Vergleich hat. Und nicht immer lassen die Vögel sich hören.
Außerdem kann es auch mal zu einer Mischbrut kommen: https://www.researchgate.net/publicatio ... reeper_C_f
Sind das dann Gartenwaldbaumläufer oder Waldgartenbaumläufer? Und wie sind dann die Merkmale verteilt?
Und dann kann an sich noch über den Artbegriff bzw. die Abgrenzung zweier Arten voneinander Gedanken machen.
Aufgrund der dunklen Flanken würde ich ihn als GBL ablegen. Aber das ist meine persönliche Einschätzung.
VG UliK
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 29 Nov 2022, 13:52
von marionvier
Baumläufer können in der Tat sehr verwirren, auch wenn man alle Merkmale kennt.
Fotos sind auch eine Quelle von Fehleinschätzungen, was man insbesondere bei Serienaufnahmen feststellen kann.
Heute liefen mir zwei Gartenbaumläufer (Stimme vernommen) über den Weg. Bei einigen misslungenen Fotos sieht der Schnabel zart und kurz aus, bei anderen Fotos wiederum typisch. Das gleiche gilt auch für die berühmte Hinterkralle.
Eine Kostprobe der beiden Gartenbaumläufer:
Größe: 793.04 KiB, 1886 mal betrachtet
Grüße
Marion
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 29 Nov 2022, 16:54
von MatthiasM
Ich war auch mal der Ansicht, dass ich mich da etwas auskenne, weil hier auch beide Arten vorkommen und ich die beobachten konnte / kann, auch mit Fotos. Gerade das, was hier angesprochen wurde, fällt mir immer häufiger auf. Beide Arten haben generell schon sehr lange Schnäbel und Hinterkrallen. Hat man aber keinen direkten Vergleich, ist man evtl. subjektiv unterwegs und sieht "eine relativ lange" Hinterkralle. Es ist eben alles "relativ" .
Schade, dass ich die immer nur sehr selten höre. Sonst würde das die Sache einfacher machen.
Viele Grüße
Matthias
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 29 Nov 2022, 22:35
von ilja
Vielen Dank, Richard und UliK für eure Meinungen zum Baumläufer auf meinen Fotos. Damit steht es jetzt 1:1, genauso wie in meinem Kopf, zwischen Wald- und Gartenbaumläufer.
Vielen Dank auch an Marion und Matthias für die Diskussion. Anhand des Stufenmusters hätte ich deinen linken Baumläufer auch als Garten-BL einsortiert, Marion. Beim kleineren Bild rechts erkenne ich das nicht gut genug.
Das mit den relativen Merkmalen finde ich auch immer besonders schwierig. Bei Fotos kommt das Problem mit oft perspektivischen oder aufgrund der Lichtverhältnisse farblichen Verzerrungen hinzu. Da ist länger, gebogener, heller oder rötlicher eventuell nicht einmal innerhalb eines Bildes mehr zu beurteilen. Und dann gibt es auch noch die Schwierigkeit, dass die Unterschiede eines Merkmals zwischen Individuen einer Art größer sein können, als zwischen den Arten. Da könnten gerade Krallen- und Schnabellänge der Baumläufer ein Beispiel für sein.
Mal sehen, ob der "Gesamteindruck" meines Problemfalls oben, noch weitere Stimmen für eine der beiden Baumläuferarten sammeln kann. Ob ich den damals gehört hatte, kann ich übrigens nicht mehr sagen. Wenn dann war es ein Gartenbaumläuferruf, denn Waldbaumläufer habe ich hier in der Umgebung noch nicht bewusst wahrgenommen.
Schöne Grüße. Ilja.
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 30 Nov 2022, 05:43
von Bodo
Das Problem ist noch komplexer. Es gibt Mischsänger, die perfekt den Gesang der Zwillingsart beherrschen. Gemeint sind nicht Hyride. Nach allgemeiner Meinung meistens Waldbaumläufer. Letzteres stelle ich aber in Frage, da das eine in der Literatur sich vervielfältigende Angabe ohne ausreichende neuere Untersuchungen ist. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Gartenbaumläufer rufen manchmal, zumindest für durchschnittlich trainierte Ohren, wie Waldbaumläufer, besonders die juvenilen.
Die "Grauzone" bei Bestimmungen ist schwer abzuschätzen.
Mischsänger:
Es kann aber auch längere Zeit der Gesang von nur einer der beiden Arten vorgetragen werden und dann wieder mal gewechselt oder abgebrochen ohne Wechsel.
Gruß Bodo
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 30 Nov 2022, 14:19
von marionvier
Die Erläuterungen von 'Bodo sprechen mir in jeder Hinsicht "aus der Seele". Besonders gut hat mir die Bemerkung gefallen, dass sich Aussagen in der Literatur vervielfältigen ohne aktuell überprüft zu werden. Ich möchte noch ergänzen, dass trotz gründlicher Recherche oftmals nicht einmal die Quelle zu finden ist, weil einfach nur aus bestehenden Publikationen abgeschrieben wird.
Mein letzter Aufreger war die Behauptung in einer Diplomarbeit, dass Waldohreulen den Wald verlassen wenn Rabenkrähen in den Wald einziehen. Für mich mehr als erschreckend ist nun die Feststellung, dass diese Aussage nun überall auftaucht (und nicht nur in den "bunten" Blättern).
Viele Grüße
Marion
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 30 Nov 2022, 19:42
von MatthiasM
Hallo Bodo,
das würde ja bedeuten, dass ich mich auf den Ruf von Baumläufern auch nicht mehr verlassen kann? Das wäre ja dann wie bei den Rufen von Sumpf- und Weidenmeise. Interpretiere ich das richtig?
das würde ja bedeuten, dass ich mich auf den Ruf von Baumläufern auch nicht mehr verlassen kann?
Nicht wenn du einen vermeintlichen Wb nur kurz rufen hörst und keine weiteren Anhaltspunkte für die Bestimmung hast. Je länger rufend - desto sicherer. Am besten Rufreihen mit Unterbrechungen. Gartenbaumläufer verraten sich dann oft, indem sie auch mal den arttypischen Ruf hören lassen. Den bringen Wb (nach meinem Kenntnisstand) nicht.
Baumläufer unbestimmt zu lassen ist keine Schande! Ulik hat weiter oben schon angedeutet, dass man sich auch über den Artbegriff so seine Gedanken machen könnte. Sowohl aus naturwissenschaftlicher als auch philosophischer Sicht.
"Art" ist eine Erfindung des Menschen um "Ordnung" in die Natur zu bringen und die komplexen Zusammenhänge etwas besser zu verstehen. Was nützt, aus philosophischer Sicht, eine Abgrenzung die Unsicherheit bringt und die "Arten" sich gar nicht an diese Abgrenzung halten (ich meine nicht seltene "Ausnahmehyriden", sondern Hybridisierung als einen "Normalfall"). Das klassische Beispiel sind die Großmöwen. Die Artabgrenzung sollte sich an Lebenswirklichkeit in der Natur orientieren.
Die klassische Definition der "Biologischen Art" ist meiner Meinung nach immer noch die sinnvollste.
Auch die neuen Methoden der Erbgutanalyse lösen das Problem nicht. Mann kann da viele Erkenntnisse über die Entwicklung und Verwandtschaft u. a. gewinnen. Die Abgrenzung ist aber auch letztendlich willkürlich menschlich - auf Grund eines (wie ich es vereinfacht ausdrücke) inneren Phänotyps.
Naturwissenschaft kann sich nicht mehr selbst erklären. Es ist auch immer ein philosophisches Problem. Man denke nur an die sogenannten exakten Wissenschaften wie Quanten- und Astrophysik. Die Ergebnisse sind ohne geisteswissenschaftliche Interpretation sinnlos.
Entschuldigung!! Jetzt bin ich schon meilenweit am Thema vorbei ...
Jetzt bin ich schon meilenweit am Thema vorbei ...
Erst mal vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Ich muss da einfach noch mehr und genauer auf die Laute achten.
Deine Beiträge regen immer wieder zum Nachdenken an, was sehr gut ist. Astro- und Quantenphysik sind nicht mehr in den Kinderschuhen, haben aber noch -ob sinnvoll oder nicht- erheblichen Forschungsbedarf. Ich weiß nicht, wo der Begriff "exakte Wissenschaften" herkommt, das habe ich so noch nicht gelesen. Vielleicht kommt "exakt" mit der Begründung daher, dass mit der Zeit genauere Messdaten erfasst werden können.
Aber schlussendlich gehe mit dir mit.
Und zum Thema "Biologische Art", die du angesprochen hast, habe ich bei genauem Nachdenken einen größeren Schreck bekommen. Und ich schreibe mal, was mir dabei durch den Kopf gegangen ist (Achtung! Evtl provokant!):
Wenn wir als Menschen im Kopf z.B. Wald- und Gartenbaumläufer auf Grund von Aussehen, Lautäußerungen und ggf auch Verhalten in Arten trennen, obwohl sie annähernd gleiche Merkmale zeigen, dann machen wir das mit Menschen auch!
Genau bei diesem Gedankengang, der bei mir nach dem Lesen deines Beitrags losging, habe ich einen riesigen Schreck bekommen.
Das ist jetzt nicht dramatisch für die Baumläufer, regt aber aber dazu an darüber nachzudenken, wie wir unsere Umwelt im Kopf "klassifizieren" und einordnen. Das ist schon krass.
Sorry, ich hab mich jetzt hier auch sehr vom Thema entfernt. Das Thema ist nicht ohne... Und es rattert noch da oben...
Astro- und Quantenphysik sind nicht mehr in den Kinderschuhen, haben aber noch -ob sinnvoll oder nicht- erheblichen Forschungsbedarf. Ich weiß nicht, wo der Begriff "exakte Wissenschaften" herkommt, das habe ich so noch nicht gelesen. Vielleicht kommt "exakt" mit der Begründung daher, dass mit der Zeit genauere Messdaten erfasst werden können.
Um Missverständnissen vorzubeugen. Ich halte Astro- und Quantenphysik für absolut sinnvoll und verfolge die neuen Ergebnisse als interessierter Laie. Meine Bemerkung bezog sich nur auf die Interpretation der Ergebnisse und was wir daraus machen.
(die sogenannten exakten Wissenschaften sind die, welche mathematisch oder quantitativ und logisch eindeutig schlüssige Aussagen treffen - vereinfacht gesagt)
Gruß Bodo
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 02 Dez 2022, 10:33
von UliK
Zur Artabgrenzung hatte ich im Studium (lange ist´s her) gelernt: wenn Tiere (bzw. Organismen) fortpflanzungsfähige Nachkommen hervorbringen, gehören sie zur selben Art. Bsp. Pferd x Esel => Maulesel bzw. Maultier, je nachdem, wer Vater- oder Muttertier war; Maulesel bzw. Maultier sind nicht fortpflanzungsfähig. Also sind Pferd und Esel unterschiedliche Arten. Ob die Nachkommen einer Mischbrut bei Baumläufern fortpflanzungsfähig wären, kann ich nicht sagen, wurde wahrscheinlich auch noch nicht geprüft.
Heutzutage wird die Abgrenzung aufgrund der Ähnlichkeit genetischer Merkmale (DNA) getroffen. Wie hoch die Übereinstimmung in % sein muss, weiß ich allerdings nicht.
VG UliK
Zur Artabgrenzung hatte ich im Studium (lange ist´s her) gelernt: wenn Tiere (bzw. Organismen) fortpflanzungsfähige Nachkommen hervorbringen, gehören sie zur selben Art. (...)
Heutzutage wird die Abgrenzung aufgrund der Ähnlichkeit genetischer Merkmale (DNA) getroffen. Wie hoch die Übereinstimmung in % sein muss, weiß ich allerdings nicht.
Ja, die klassische (nach meiner Meinung sinnvollste) biologische Artdefinition - eben sich an der wirklichen Lebenswelt orientierend. Ich würde noch ergänzen, dass die Nachkommen umfassend fit im biologischen Sinn sein sollen und sich durch weitere Reproduktion in die jeweilige Population integrieren können (immer haben sie aber nicht die Gelegenheit dazu).
Für genetische Abgrenzung gibt es keine einheitlichen Regeln, es geht nicht nur nach Prozenten. Die Abgrenzung ist somit im gewissen Maße willkürlich. Manchmmal bleibt man auch bei der Artabgrenzung, obwohl die Erbinformation das im Vergleich mit anderen Arten kaum rechtfertigt (Beispiel Kreuzschnäbel).
Gruß Bodo
Re: unklarer (Garten- ?) Baumläufer
Verfasst: 02 Dez 2022, 16:48
von Maffong
In der Biologie ist kaum etwas wichtiger und umstrittener als die Definition von Arten. Das Problem liegt darin, dass unterschiedliche Unterwissenschaften verschiedene Ansprüche haben.
Tiere vermehren sich anders als Pflanzen und wieder anders als Bakterien oder Pilze. Unter Pflanzen ist Hybridisation viel präsenter als in der Tierwelt, was Auswirkungen auf die sinnvollen Artdefinitionen hat. Es gibt Organismen, teils sogar in der höheren Tierwelt, die sich ausschließlich parthenogenetisch also asexuell fortpflanzen, da macht die Biologische Artdefinition wenig Sinn. Paläontologen die sich mit Fossilien auseinandersetzen, die sich im Alter teils um hunderttausende von Jahren unterscheiden, können in ihrer Artdefinition nicht so eng sein, wie Systematiker, die sich nur mit der heutigen Tierwelt beschäftigen.
Die biologische Artdefinition ist sicherlich eine der am weitesten anwendbaren und vernünftigsten Definitionen für uns Ornithologen gelangt dennoch häufig an ihre Grenzen. Wie ist mit disjunkten Populationen umzugehen, die zwar nahezu identisch sind, aber einfach nicht miteinander in Kontakt kommen? Alles eigene Arten? Wie ist mit Arten umzugehen, die stabile Hybridzonen bilden (Raben- und Nebelkrähe)? Genetisch gesehen sind übrigens Raben- und Nebelkrähe wesentlich näher miteinander verwandt als die quasi identischen Rabenkrähen aus Iberien und Mitteleuropa, welche durch die Pyrenäen voneinander getrennt bleiben.
In der Regel wird daher versucht auf unterschiedliche Artdefinitionen zurückzugreifen. Stammbäume können uns hierbei zumindest vergleichsweise gut objektivierbare Daten liefern.
Dass Garten- und Waldbaumläufer unterschiedliche Arten darstellen wird jedoch durch quasi alle gängigen Artdefinitionen bestätigt. Sie unterscheiden sich genetisch, akustisch, morphologisch, in der Habitatwahl, etc.
Hybriden kommen auch bei etlichen anderen Arten vor, bei denen wir nicht im Traum auf die Idee kämen, dass sie eine Art darstellen (z.B. Kanada- x Graugans). In der Regel ist der entscheidende Faktor weniger nur die genetische Nähe, sondern das Fehlen artgleicher Partner oder eine Fehlprägung in der Jugend.
Die hier gezeigten Baumläufer halte ich übrigens alle für Gartenbaumläufer, eine Art die erstaunlich viel Variabilität zeigen kann. Der Vogel aus dem Eingangsposting fällt mir vor allem durch seine gräuliche Rücken- und Nackenfärbung auf. Ob das ein Hinweis auf fortgeschrittenes Alter, einen Wintergast von woanders oder tatsächlich eine zurückliegende Hybridisierung ist, kann ich leider nicht beurteilen.